Kapitel 3.3: Michael Stürmer - Diagnose & Therapie - Geschichtslosigkeit & Identitätsstiftung
Am 25. April 1986 veröffentlichte der Erlanger Professor für Neuere Geschichte Michael Stürmer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) den Artikel "Geschichte im geschichtslosen Land". Ebenfalls im Frühjahr 1986 hatte Stürmer den Aufsatzband "Dissonanzen des Fortschritts" herausgegeben, in dem er 25 "Essays über Geschichte und Politik in Deutschland" aus den frühen 1980er Jahren gesammelt veröffentlichte. Vor allem im letzten der drei Teile des Bandes - überschrieben mit "Bundesrepublik, quo vadis?" - nahm er Stellung zu den politischen Implikationen geschichtswissenschaftlichen Arbeitens, zu seinen Auswirkungen auf Gegenwart und Zukunft von Nation und Nationalstaat. In Artikel und Buch entwickelte er vor dem Hintergrund explizit nationalpolitischer Thesen zur gegenwärtigen Situation in der Bundesrepublik theoretische Gedanken zur Aufgabenstellung der Historiographie in der deutschen Gesellschaft.
"Orientierungsverlust und Identitätssuche sind Geschwister. Wer aber meint, daß dies alles auf Politik und Zukunft keine Wirkung habe, der ignoriert, daß in geschichtslosem Land die Zukunft gewinnt, wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet."Für Stürmer stellt sich der deutschen Nation der Gegenwart ein folgenreiches Problem: Das Fehlen nationaler Identität. Dies stehe positivem Nationalgefühl entgegen, welches jedoch unerläßlich sei für Bestand und Zukunftsfähigkeit eines jeden Staates. Kollektive, nationale Identität verspreche innere Kontinuität und außenpolitische Berechenbarkeit. Einen Beitrag zur Herstellung dieser Identität müsse gerade die Geschichtswissenschaft leisten, denn die Geschichte Deutschlands und ihre Vermittlung begreift Stürmer als zugleich ursächlich für das umrissene Problem und "Wegweiser zur Identität". Aufgabe der Historiographie sei daher die Gratwanderung zwischen identitätsbildender Sinnstiftung und Entmythologisierung der Geschichtsbilder. Es bedürfe "einer Deutung der deutschen Geschichte, die nicht im Trauma lebt und nicht ins Traumland führt, sondern nationalhistorische Bilanz zieht".
Doch mit Ende des Nationalsozialismus und der Erkenntnis über dessen Charakter als moderner, totalitäter Tyrannei habe sich den Deutschen die Frage gestellt, was noch von der Vergangenheit bliebe, welche Maßstäbe Bestand haben sollten aus der Vergangenheit, die in die Katastrophe der Diktatur geführt habe. "Aus der deutschen Geschichte", formuliert er die Antwort der Betroffenen, "war allein zu lernen, daß nichts sich wiederholen dürfe." Diesen "Verlust der Geschichte" habe die deutsche Nation hingenommen, ohne ihn zu beklagen, und er wirke bis heute - die 1980er Jahre - fort.
Zwar sei ein Aufschwung geschichtlichen Interesses festzustellen, doch lasse dieser nicht auf eine Erneuerung des historischen Bewusstseins schließen. Vielmehr fänden die so interessierten Deutschen in der Zukunft keinen Halt und suchten Richtung und Vergewisserung, wohin die Reise gehe. Dieser Interpretation entsprechend attestiert er der den Menschen der BRD - gestützt auf Meinungsforschungen - "das geringste Selbstbewußtsein" unter allen Industrieländern und den gründlichsten Wertewandel und damit der Bundesrepublik "Geschichtslosigkeit" und identifiziert sie als ein "Land ohne Erinnerung".
Vor dem Hintergrund dieses Befundes sei die zuvor eingeforderte nationalhistorische Bilanz also moralisch legitim und politisch notwendig, allerdings noch nicht verwirklicht. Um dies anzugehen, gelte es, den "geschichtlichen Ort Deutschlands und der Deutschen aufs neue zu vermessen". Dies bedeute auch, an die Kontinuitätslinien der Epochen vor 1933 anzuknüpfen, und so entwickelt Stürmer Thesen zur Integration und Verortung des Nationalsozialismus in die deutsche Geschichte:
"Bindungen und Bedingungen auf dem europäischen Schachbrett, ein System von Druck und Gegendruck, Deutschland dort, wo sich von jeher die geistigen und materiellen Kraftlinien des Kontinents kreuzten, historisch niemals Grenze, sondern immer Mitte, die Deutschen über Jahrhunderte die europäischste der europäischen Nationen.".
"Eine moderne Nationalgeschichte", so Stürmer, "muß die außenpolitische Dimension des geschichtlichen Staatensystems wiedergewinnen". Zwar läge der Entwicklung zum "Kriegerstaat" falsches Denken zu Grunde, doch sei dies nicht falscher gewesen, als in Ländern wie Russland, Frankreich, den USA oder dem britischen Empire. Zentraler geschichtsbestimmender Faktor sei jedoch die außen- und geopolitische "Mittellage" Deutschlands gewesen, seine Lage als Schnittpunkt aller europäischen Halbinseln. Sie sei den Deutschen zwar Mahnung gewesen, den weltpolitischen Wettläufen zu widerstehen, jedoch still und ungehört geblieben. Er spricht vom "ruhelosen Reich" Deutschland, welches sich nicht in das "Weltmächtesystem der Jahrhundertwende" habe einfügen lassen - "zu groß für eine Nebenrolle, zu klein für die Hauptrolle." Vor diesem Hintergrund verneint er im Gegensatz zu vielen Beteiligten der Sonderwegsdebatte die Frage, ob in Bismarcks Nationalstaat "Demokratie und Pluralismus Frieden und Stabilität" hätten schaffen können. Vielmehr sei die innere Dynamik des Reiches - entstanden aus einem Zuviel an Pluralismus, Liberalisierung, Demokratie und Parlamentarisierung - den Konsequenzen jener Mittellage, jenes starken äußeren Drucks nicht gerecht geworden.
So sei der Erste Weltkrieg als ein Versuch zu werten, durch Hegemonialstreben die Mittellage ein für allemal zu sprengen. Und - so Stürmers Ortung des Nationalsozialismus in der historischen Kontinuität - auch Hitlers Motivation sei es gewesen, "nach der mißglückten Generalprobe des Weltkriegs das Drama mit radikaler Konsequenz zu Ende zu bringen, die Mittellage endgültig aufzubrechen".
Als weiteres Ergebnis seiner Analysen konstatiert Stürmer Parallelen zwischen Bismarck-Reich und Bundesrepublik der 1980er Jahre: sie lassen sich in wesentlichen Punkten zusammen führen, so für die Mittellage oder die innere Ruhelosigkeit und beider Konsequenzen:
"Bei allen Unterschieden hebt sich doch eine Konstante heraus: die Lage in Mitteleuropa, die Entscheidung in Deutschland. Denn Preußen lag am Kreuzungspunkt aller Halbinseln, die Europa ausmachen, und die Bundesrepublik hat manches Schwierige von dieser Lage geerbt."
"In Wahrheit geht es auch heute um die älteste der Fragen an den Staat, nämlich die, woher der innere Frieden kommen soll und welche Kräfte den Konsens sichern. Der Pluralismus der Werte und Interessen, wenn es keinen gemeinsamen Boden in Vergangenheit und Zukunft mehr gibt, [...] treibt früher oder später in Kämpfe, die das Gemeinwesen in Frage stellen."
Stürmers Thesen können insgesamt als Begründungs- und Implementationversuch eines sinnstiftenden, konsensfähigen Geschichtsbildes als einem "geometrischen Ort" der nationalen Identität der Deutschen begriffen werden. Dieses sei notwendig für inneren Frieden zur Sicherung des von Pluralismus gefährdeten Gemeinwesens und für äußeren Schutz zur Herstellung bündnisverpflichteter Berechenbarkeit.Nach oben
Im Frühsommer 1986 erschien im Berliner Siedler-Verlag ein Buch des Kölner Professors für Geschichte der Neuesten Zeit, Andreas Hillgruber. Unter dem Titel "Zweierlei Untergang" befasste sich der renommierte Politikgeschichtler in zwei Aufsätzen mit den "zwei nationalen Katastrophen", die der zweite Weltkrieg einschließe: mit der "Zerschlagung des deutschen Reiches" und mit dem "Ende des europäischen Judentums".
Mehrere für den Kontext dieser Arbeit bedeutende Gedanken lassen sich aus dem Aufsatz zur Situation an der Ostfront in den Jahren 1944 und 1945 ableiten:
Zunächst sei es methodisch notwendig, sich den Standpunkt der deutschen Bevölkerung im Osten und den kämpfender Wehmachtssoldaten anzueignen, um die historischen Verhältnisse der "Winterkatastrophe 1944/45" zu erarbeiten. Hillgruber betont "die enorme Schwierigkeit aller historischer Wertung", da eine Darstellung der Geschehnisse im Osten 1944/45 eine ganze Reihe Fragen aufwerfe, "die die Politik, die Kriegführung und die ,Moral` in Vernichtungskriegen betreffen". Vor diesem Hintergrund verdeutlicht der Autor an mehreren Beispielen seine Auffassung von einer "heillosen Situation", die zum Problem der Identifizierung führe, "einem Schlüsselproblem, dem der Historiker nicht mit allgemeinen Hinweisen auf das Objektivitätsideal ausweichen kann". Nach Ausschluss der "Extreme" der zur Wahl stehenden Identifikationspositionen bleibe dem Historiker nur eine Position: "Er muß sich mit dem konkreten Schicksal der deutschen Bevölkerung im Osten und mit den verzweifelten Anstrengungen des deutschen Ostheeres und der deutschen Marine im Ostseebereich identifizieren".
Weiterhin sei machtpolitisches Kriegsziel der Westallierten nicht nur und nicht in erster Linie die Beendigung der Diktatur im Deutschen Reich gewesen, sondern die Zerstörung der "Fundamente des so gefährlichen Deutschlands, das Bismarck-Reich und dessen Kern, der Staat Preussen". So habe das "extrem negative, klischeehafte Preußen-Bild" und eine "Überschätzung der Rolle" Polens in der Nachkriegszeit dazu geführt, dass "für den Fall einer deutschen Niederlage zu keinem Zeitpunkt des Krieges Aussicht bestand, den größeren Teil der preußisch-deutschen Ostprovinzen zu retten". Folge dieser Entwicklung sei die "Auslöschung des Deutschtums in Ostmitteleuropa" gewesen.
Für Hillgruber war "ganz Europa der Verlierer der Katastrophe von 1945". Bismarcks Versuch, nach langer, wechselvoller Vorrherrschaft von Flügelmächten "Europa zum ersten Mal von der Mitte aus zu gestalten", sei in einer Katastrophe gescheitert und mit ihm auch die europäische Vermittlerrolle Deutschlands. Als Ergebnis finde sich die Mitte Europas als Vorfeld in der weltpolitischen Auseinandersetzung neuer Flügelmächte (Sowjetunion und USA) wieder.
Im zweiten Teil seines Buches wird - abweichend vom Buchtitel - "Der geschichtliche Ort der Judenvernichtung" behandelt. Auf 22 Seiten referiert Hillgruber seine Erkenntnisse über die "geschichtliche Dimension jenes millionenfachen Mordes an den europäischen Juden". Für den Verlauf des "Historikerstreits" spielte nur die Gegenüberstellung des sprachlichen Charakters beider Aufsätze eine kleine Rolle. Auf die Darstellung des unumstrittenen Sachgehalts dieses zweiten Teiles wird insofern an dieser Stelle verzichtet.
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