Kapitel 5: Nationalpolitische Implikationen
Vor dem Hintergrund problematischer Identifikationsbemühungen (Hillgrubers), spekulativer Argumentationsweise (Noltes) und unzureichender Quellenbelege äußerten Habermas und Historiker wie Broszat, Hans Mommsen und Jürgen Kocka den Verdacht auf politische Implikationen. Der NS und seine Verbrechen sollten verharmlost und relativiert werden, mit dem Ziel, die konservativen Eliten in der Verantwortung für den NS zu entlasten, die Hypotheken einer glücklich entmoralisierten Vergangenheit abzuschütteln und dadurch zustimmungsfähige Vergangenheit zu konstruieren. Ganz im Sinne Stürmers werde Geschichtswissenschaft damit in den Dienst genommen zur Stärkung kollektiver bzw. zur Aufmöbelung konventioneller Identität, bei gleichzeitiger Verschiebung der nationalen Feindbilder aus dem Nato-Raum in den Osten. Ein Geschichtsbild solle etabliert werden, dass nationale Machtpolitik fundiert, indem es das "Menetekel der nationalsozialistischen Epoche in den Wind schlägt". Letztendlich gehe es darum, die gesellschaftlichen Voraussetzungen zu verdrängen, die den NS und seine Verbrechen möglich machten, "indem man sich auf vergleichbare Vorgänge anderswo beruft und sie der bolschewistischen Weltbedrohung als Auslöser in die Schuhe (schiebt)". Insgesamt werten sowohl Habermas als auch Broszat und Hans Mommsen die politische Stoßrichtung der konservativen Historiker als einen Angriff auf das politische Selbstverständnis der BRD. Explizit stellen sie auch eine Verbindung her zwischen den Arbeiten der konservativen Historiker und den politisch-ideologischen Veränderungen im Zuge der "geistig-moralischen Wende". Habermas spricht von "Regierungshistorikern" und verweist auf die Holocaust-relativierende Wirkung von Bitburg, Mommsen sieht die Parallelen vor allem in den Museumsprojekten gegeben, die "den Deutschen ihre nationale Identität gleichsam nachzuliefern" versuchten.
Zwei Themenkomplexe lassen sich in dieser Kritik trennen und sollen im folgenden nacheinander behandelt werden. Zum einen die Frage nach dem Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Nationalpolitik, zum anderen die Frage nach der Rolle des NS für das politische Selbstverständnis der BRD und für die Ausgestaltung nationaler Identität in Deutschland. Beides sind Auseinandersetzungen um Vergangenheitsbewältigung.Nach oben
In den Augen Stürmers stellt Geschichte den zentralen Wegweiser zu Identität und Sinngebung dar. Ihr spricht er die Wirkunsgmacht zu, die früher Religion besessen habe. Geschichtswissenschaft muß für ihn vor diesem Hintergrund die Aufgabe einer Gratwanderung zwischen Sinnstiftung und Entmythologisierung übernehmen. In Deutschland sei nach dem 2. Weltkrieg alles historische Denken auf die Suche nach den Ursachen konzentriert gewesen. 40 Jahre später konstatiert Stürmer mit der Mitgliedschaft und starken Stellung Deutschlands innerhalb der Allianz der westlichen Demokratien eine veränderte politische Lage. Damit verbinden sich für ihn veränderte Anforderungen an Geschichtswissenschaft: Es bedürfe - so Stürmer - "einer Deutung der deutschen Geschichte, die nicht im Trauma lebt und nicht ins Traumland führt, sondern nationalhistorische Bilanz zieht". Denn, zitiert er den früheren französischen Staatssekretär Jean-Marie Soutou, "Europa brauche das verantwortungsvolle und verständliche Nationalbewußtsein der Deutschen". "In geschichtslosem Land (gewinnt) die Zukunft, wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet".
Habermas kritisiert diese Ansprüche als eine Indienstnahme der Geschichtswissenschaft für nationale Zwecke. Diese Haltung sei bis in die späten 50er durchaus kennzeichnend für das Selbstverständnis deutscher Historiker gewesen sei, dann aber überwunden worden vor dem Hintergrund der Erkenntnisse über die Verstrickung der Geschichtswissenschaft mit den NS und der Ohnmacht ihm gegenüber. Mir diesem "Reflexionsschub" sei eine Einsicht in die Kontextabhängigkeit jeder Geschichtsschreibung verbunden gewesen ebenso wie eine Absage an die Vorstellung eines geschlossenen Geschichtsbildes. Die Konsequenz hieraus sieht Habermas in der Etablierung eines Pluralismus an Methoden und Lesarten, dem die revisionistischen Historiker, zu denen er Stürmer, Nolte und auch Hillgruber rechnet, nun wieder entgegenwirkten. Pluralismus der Lesarten heiße eben nicht, "die Gegenwart aus Scheinwerfern beliebig rekonstruierter Vorgeschichten an(zu)strahlen und aus diesen Optionen ein besonders geeignetes Geschichtsbild aus(zu)wählen". Sondern es gehe darum, beschreibt Habermas die Aufgabe von Geschichtswissenschaft, den Pluralismus durchsichtig und "die identitätsbildenden Überlieferungen in ihren Ambivalenzen deutlich zu machen". um damit die notwendigen Voraussetzungen für eine "kritische Aneignung" zu schaffen.
Wie Habermas wendet sich auch Kocka nicht generell gegen die Vorstellung einer identitätsstiftenden Funktion von Geschichtswissenschaft, wohl aber gegen ein Vorgehen, das unliebige Abschnitte der Geschichte zu diesem Zwecke zu relativieren versucht. Aufgabe von Geschichtswissenschaft sei es zu beschreiben, darzustellen und zu erklären, und die Gegenwart dabei in ein möglichst aufgeklärtes, das heiße vor allem zutreffendes und kritisches Verhältnis zur Vergangenheit zu setzten. Damit trage Geschichtswissenschaft in der Tat "in einem grundsätzlichen Sinn zur Identitätsfindung bei, vorausgesetzt, man benutze einen Begriff von Identität, der Selbst-Distanzierung und Reflexion ebenso miteinschließt wie ständigen Wandel und immer erneute Kritik". Historiographische Sinnstiftung zur Stärkung unreflektierten deutschen Nationalbewußtseins lehnen Habermas wie Kocka vehement ab und sehen darin einen Angriff auf die fachinterne Lehre aus dem NS.
Die Gegner Habermas sahen in dessen Ausführungen gerade nicht die Verteidigung eines Pluralismus von Lesarten, sondern im Gegenteil den Versuch einer Zensur von links. Nolte sprach explizit von einem "Zenzorenamt besonderer Art", das Habermas ausübe und Klaus Hildebrand, der als erster auf die Kritik Habermas reagierte, verwehrte sich gegen "Frageverbote" und warf dem Frankfurter Sozialphilosophen vor, "Gegenaufklärung" zu betreiben. Habermas wolle an seinem vertrauten Geschichtsbild festhalten und sträube sich deswegen "auf Kosten der Wahrheitsfindung" gegen wissenschaftliche Revision. Der einzige Pluralismus, den Habermas wirklich verteidige, sei der auf der Linken, empörte sich im Dezember auch Hillgruber, und mutmaßte über Habermas' Motive, dieser wolle möglicherweise Wahlkampfhilfe für die SPD leisten oder aber seine führende Stellung innerhalb der Linken bekräftigen. Nipperdey schließlich postulierte: "Man muß dem Monopolanspruch der kritischen Historie mit ihren Verdammungsurteilen entgegentreten". Die eigene politische Tendenz werde mit der Wahrheit gleichgesetzt und angesichts der Hegelschen "Herrschaft des Verdachts", die er hier am Werke sah, dürfe durchaus von Frageverboten gesprochen werden.
Am schärfsten formulierte schließlich Joachim Fest einen Vorwurf der ideologischen Befangenheit: der Grund für die Vorbehalte gegenüber einem Vergleich der nationalsozialistischen mit den bolschewistischen Verbrechen liege darin, dass der Kommunismus aufgrund seines im Ursprung humanitären Ideenbestandes Kredit besitze. Auf diese so konstatierten ideologischen Vorurteile führt er es zurück, dass sich "an irgendwelchen Professorentischen (...) daran gemacht (wird), Opfer zu selektieren."
In seinem zweiten ZEIT-Artikel nahm Habermas explizit zu den Vorwürfen der Frageverbote Stellung. Nicht die Fragen und Vergleiche der von ihm kritisierten Historiker an sich, sondern die Form ihrer Veröffentlichung stellen für ihn das Politikum dar. Hätte der Disput in einer Fachzeitschrift stattgefunden, so Habermas, hätte er keinerlei Anstoß daran genommen. Die Publikation des Nolte-Artikels in der FAZ aber markiere einen Einschnitt in die politische Kultur der BRD. "In der Öffentlichkeit (...) stellt sich die Frage der apologetischen Herstellung von Geschichtsbildern als unmittelbar politische Frage". Spekulative Fragestellungen dergestalt Nolte sie formulierte, können demnach in den Augen Habermas' in fachinternen Kreisen durchaus diskutiert werden, im öffentlichen Raum aber stelle sich die Frage der politischen Motivation. Auch Wehler wunderte sich später in Bezug auf Nipperdey, dass dieser keinen Anstoß daran genommen hatte, wie Nolte, Hillgruber und Stürmer auf ,hochsensiblen Streitgebieten` in die Öffentlichkeit preschten.Nach oben
Die von Stürmer propagierte Verankerung nationalen Selbstbewußtseins in der gemeinsamen Geschichte, der Nolte und Hillgruber in den Augen ihrer Kritiker durch Relativierung und Verharmlosung des NS den Weg bereiten, stellt für Habermas einen Angriff auf das politische Selbstverständnis der BRD dar. Im folgenden soll nachgezeichnet werden, welche Modelle hier einander entgegengestellt werden und welche Vorstellungen von Vergangenheitsbewältigung ihnen zu Grunde liegen.
Wie oben dargestellt besteht für Michael Stürmer die Konsequenz aus der deutschen Geschichte inklusive des NS in einer stärkeren Berücksichtigung der besonderen, geschichtsträchtigen Mittellage. Vor diesem Hintergrund erhält für ihn die Einbindung in die NATO einen zentralen Stellenwert im politischen Selbstverständnis der BRD: "Die Bundesrepublik hat weltpolitische und weltwirtschaftliche Verantwortung. Sie ist Mittelstück im europäischen Verteidigungsbogen des atlantischen Bündnisses." Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, bedarf es nach Stürmer außenpolitischer Berechenbarkeit und innerer Kontinuität. Als elementare Voraussetzung für beides begreift Stürmer zu einen eine klare Abgrenzung gegen den Ostblock, zum anderen die Existenz eines stabilen Nationalbewußtseins. Beides empfindet er als gefährdet: In dem Verweis auf den kommunistischen Widerstand in der Rede Richards von Weizsäckers zum 40. Jahrestag der Niederlage des Dritten Reiches sieht Stürmer die "Legende vom edlen Wollen der Kommunisten" neu aufgelegt und vermutet hinter dieser "Antifa-Mythologie" verborgene Gedanken über die Zukunft.
Auch ein stabiles Nationalbewußtsein existiert in Stürmers Augen in Deutschland verglichen mit Frankreich nicht, statt dessen "viel jüngste Geschichte und wenig aufrechter Gang". Ein identifikatorischer Bezug zur nationalen Geschichte und ihren Traditionen ist für Stürmer Grundlage nationaler Identität. Die BRD sei jedoch ein geschichtsloses Land und damit gefährdet für die Zukunft. "Kein Volk kann auf Dauer ohne geschichtliche Identität leben", zitiert er Helmut Schmidt. Als positive Traditionen aus der Zeit vor '33 wertet Stürmer Patriotismus, Preußentum und die bürgerlichen Tugenden, die Hitler erbeuten und verderben konnte, weil - so Stürmer - die Deutschen in solchem Maße den "Katarakten der Modernität" ausgesetzt waren. Die Präsenz des NS in der Gegenwart erscheint bei ihm wie eine Barriere zu geschichtlicher als Grundlage nationaler Identität. Seine Klage über "viel jüngste Geschichte" läßt auf eine Vorstellung von Vergangenheitsbewältigung schließen, wie sie Nolte in einem seiner Aufsätze als "normales Vergehen der Vergangenheit" geschrieben hat: ein "Entkräftigungsvorgang", der für die Zeitgenossen das Bedrängende nehme und die vergangenen Zeiten den Historikern überlasse. Zur Vergangenheit rechnet Stürmer auch die Schuld für die Verbrechen des NS." Die meisten, die damals wählten (...) , sind längst tot. Die Schuld ist nicht mehr zwischen den Generationen abzurechnen. Auch sie wurde Geschichte."
Habermas Grundlage seines Verständnisses von Vergangenheitsbewältigung ist die Annahme einer noch anhaltenden kollektiven Haftung der Deutschen für den NS. Er knüpft hier explizit an Karl Jaspers an und ruft dessen Traktat über "Die Schuldfrage" von 1946 in Erinnerung. Jaspers unterscheidet hierin vier Kategorien von Schuld: die kriminelle, die politische, die moralische und die metaphysische Schuld. Kriminelle Schuld trägt, wer ein Verbrechen im Sinne der gültigen Gesetze begeht. Die Konsequenz hierfür ist Strafe. Politische Schuld können Staatsoberhäupter und auch StaatsbürgerInnen auf sich laden. Letztere haften für die Handlungen ihrer staatlich-politischen RepräsentantInnen. "Es ist jedes Menschen Mitverantwortung, wie er regiert wird." Das Äquivalent zur Strafe ist hier die Haftung und Verpflichtung zur Wiedergutmachung. Moralische Schuld ergibt sich aus der moralischen Verantwortung jedes einzelnen Menschen für jede seiner Handlungen. Instanz ist hier das eigene Gewissen und nahestehende Personen. Aus der moralischen Schuld erwächst Einsicht und Buße im Sinne von Erneuerung. Metaphysische Schuld letztendlich ergibt sich aus der Solidarität aller Menschen zueinander, die Mitverantwortung für alles Unrecht dieser Welt mit einschließt und die Pflicht zu dessen Bekämpfung. Schuldwertende Instanz ist hier Gott allein und das Ziel eine prozeßhafte Reinigung.
Trotz der Aufteilung in diese verschiedenen Schuldkategorien sieht Jaspers die Schuldebenen eng miteinander verbunden, in besonderen auch die politische und die moralische Schuld. Denn aus der moralischen Lebensart der einzelnen, aus dem Alltagsverhalten breiter Volkskreise, erwachse erst das jeweils bestimmte politische Verhalten und damit der politische Zustand. "Das Unterlassen der Mitarbeit an der Strukturierung der Machtverhältnisse, am Kampf um die Macht im Sinne des Dienstes für das Recht, ist eine politische Grundschuld die zugleich eine moralische Schuld ist."
Eine kollektive Schuldfähigkeit besteht für ihn jedoch nur auf der politischen Ebene. Auf dieser Eben aber sei das deutsche Volk in der Tat kollektiv schuldig. "Angesichts der Verbrechen, die im Namen des deutschen Reiches verübt worden sind, wird jeder Deutsche mitverantwortlich gemacht. Wir haften kollektiv." Die politische Schuld der Deutschen sei sogar gleich eine doppelte: erstens sich überhaupt einem Führer bedingungslos hingegeben zu haben, und zweitens die Art des Führers.
Diese von Jaspers formulierte politische Haftung der Deutschen für den NS hat für Habermas auch noch in der Gegenwart Bestand. Dies ergibt sich für ihn aus der Tatsache, "daß auch die Nachgeborenen in einer Lebensform aufgewachsenen sind, in der das (der Holocaust, d.V.) möglich war". Die Lebensform der Eltern und Großeltern wirke in Form eines schwer entrinnbaren Geflechtes aus familialen, lokalen, politischen und intellektuellen Überlieferungen bis heute nach und stelle eine Verbindung noch mit den jüngsten Deutschen her. Niemand könne sich aus diesem "geschichtlichen Milieu" herausstehlen, "weil mit ihm unsere Identität, sowohl als Individuen wie als Deutsche, unauflöslich verwoben ist".
Für Habermas resultiert hieraus eine besondere Verantwortung aller Deutschen, die er in zwei Konsequenzen ausformuliert: zum einen in der Verpflichtung, die Erinnerung wachzuhalten an die "von deutschen Händen hingemordeten", im Sinne der Toten, denen hiermit eine späte Form der Solidarität bekundet werde, und im Sinne der Überlebenden, die anders in diesem Land nicht atmen könnten. Zum anderen in einem politischen Selbstverständnis, das sich auf eine äußerst kritische Überprüfung der Traditionen gründet.
Die "Wiederbelebung einer in Nationalbewußtsein naturwüchsig verankerten Identität", wie Stürmer sie propagiert, ist für Habermas vor diesem Hintergrund gerade nicht mehr möglich. Er bezeichnet sie als "vorreflexiv" und "konventionell". "Nach Auschwitz könne wir nationales Selbstbewußtsein allein aus den besseren Traditionen unserer nicht unbesehen, sondern kritisch angeeigneten Geschichte schöpfen." Dieser Konsens habe bis dato bestanden und werde nun von rechts aufgekündigt.
Fundament des politischen Selbstverständnisses der BRD und Konsequenz aus der politischen Haftung ist für Habermas die politische Verankerung in den westlichen Werten, nicht das westliche Bündnis. In ihnen sieht er die Überwindung des politischen Sonderweg verkörpert. "Eine in Überzeugungen verankerte Bindung an universalistische Verfassungsprinzipien hat sich leider in der Kulturnation der Deutschen erst nach - und durch - Auschwitz bilden können". Diese Öffnung gegenüber der politischen Kultur des Westen beschreibt Habermas als "die große intellektuelle Leistung unserer Nachkriegszeit, auf die gerade meine Generation stolz sein könnte". Patriotismus sei deswegen einzig als Verfassungspatriotismus zu denken. Wer dagegen die Deutschen zu einer konventionellen Form ihrer nationalen Identität zurückrufen wolle, zerstöre die einzig verläßliche Basis der Bindung an den Westen. Den Verlust identifikatorischer Bezüge in einer geschichtlichen Kontinuität bewertet er positiv.
"Wenn unter den Jüngeren die nationalen Symbole ihre Prägekraft verloren haben, wenn die naiven Identifikationen mit der eigenen Herkunft einem eher tentativen Umgang mit der Geschichte gewichen sind, wenn Diskontinuitäten stärker empfunden, Kontinuitäten nicht um jeden Preis gefeiert werden (...)", dann sieht Habermas hierin auch keine Geschichtslosigkeit sondern einen kritischen Umgang mit der Geschichte. Positive Anzeichen für die Herausbildung postkonventioneller Identität seien dies und Hinweise auf einen erfolgreichen Lernprozesses aus der deutschen Geschichte: "Diese Anzeichen (...) verraten (...) nur eins: daß wir die Chance, die die moralische Katastrophe auch bedeuten konnte, nicht ganz verspielt haben.".
Hans Mommsen argumentiert in seine beiden Beiträgen zum Historikerstreit ähnlich wie Habermas. Auch er sieht das politische Fundament der BRD in der Hinwendung zu den westlichen Verfassungstraditionen begründet und begreift diesen Schritt als weitgehenden politischen Neuanfang nach '45. Die Wendung gegen die westlichen Werte sei eben nicht erst vom Nationalsozialismus vollzogen worden. "Eben nicht so sehr die Fortwirkung älterer demokratischer Traditionen begründet den demokratischen Konsens in der BRD." Machtstaatsgedanken und antikommunistische Ressentiments hätten bereits Hitler den Weg geebnet. "Die gesellschaftlichen Voraussetzungen (des Holocaust, d.V.) zu verdrängen, indem man sich auf gleichartige Vorgänge anderswo beruft und sie der bolschewistischen Weltbedrohung als Auslöser in die Schuhe zu schieben, erinnert an eben die Denkhaltungen, die den Genozid implementierbar gemacht haben."
Auch im Hinblick auf das von Stürmer als Geschichtslosigkeit diagnostizierte Fehlen ungebrochenen nationalen Selbstbewußtseins teilt Mommsen die Ansicht Habermas', dies als Lehre aus dem NS zu begreifen: "Das in der Bundesrepublik unabhängig von der jeweiligen Parteizugehörigkeit anzutreffende Mißtrauen gegen jedweden staatlich verordneten Gemeinschaftskult, gegen Appelle und nationale Opferbereitschaft, gegen nationales Pathos und nationale Embleme wurzelt in der politischen Ernüchterung, die unweigerlich der Bilanzierung der Erfahrungen im Dritten Reich entsprang."
Auch Martin Broszat begreift den selbstkritischen Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte als "eines der besten Elemente politischer Gesittung, das seit den späten fünfziger Jahren allmählich in diesem Staatswesen entwickelt worden ist. Diese durch die Not erworbene moralische Sensibilität als kulturellen oder politischen Nachteil gegenüber anderen Nationen darzustellen, sei eine "Perversion patriotischen Geschichtsverlangens" und drohe den einzigen Gewinn zu verspielen, der der Erfahrung der Hitlerzeit zu verdanken sei. Die BRD beschreibt er als "Rechts-, Sozial- und Zivilisationsgemeinschaft". Zum ersten mal hätten die Deutschen diese politische Realität bejaht und dies gerade "ohne national-emotionale Nachhilfe".
Zwei Vorstellungen von Vergangenheitsbewältigung stehen sich in den beiden Parteien gegenüber: Auf der einen Seite die Befürwortung einer Normalisierung und Relativierung des NS für Gegenwartspolitik und Geschichtsbewußtsein, die vor allem von Stürmer explizit vertreten wird, und der Nolte sich in den Augen seiner Kritiker extrem verdächtig macht, sowohl durch seine Formulierung von der negativen Lebendigkeit des NS, als auch durch seine argumentativ dünnen Kontextualisierungsbemühungen.
Auf der anderen Seite die Verortung des NS als zentrales Moment im Geschichtsbewußtsein mit legitimatorischer Funktion für das proklamierte Selbstverständnis der BRD. Dieses Verständnis vom NS als einer Art Gegenmodell zur politischen Verfasstheit der BRD äußert sich vor allem in der Ablehnung konventionellen Nationalbewußtseins, das einerseits selbst als zentraler Bestandteil des politischen Sonderwegs und gleichzeitig als verankert in dessen Traditionen begriffen wird.
Als normativ angemessene Formen nationaler Identität sind entsprechend zwei Modelle mit diesen beiden Positionen verknüpft: einerseits die Vorstellung einer notwendigen Verankerung in der historischen Kontinuität, eine Gleichsetzung von Kontinuitäts- mit Orientierungsverlust, andererseits Identitätsfindung aus bewußter historischer Diskontinuität.