Kapitel 2: Wendepolitik - Öffentliche Geschichtserinnerung und Vergangenheitspolitik bis zum "Historikerstreit"

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zuletzt geändert am 12.08.2011
um 13:21
von nielo
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Am 01. Oktober 1982 wurde Helmut Kohl durch ein konstruktives Mißtrauensvotum gegen Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) zum Regierungschef. In seiner ersten Regierungserklärung mahnte der Christdemokrat eine "geistig-moralische Wende" an. Zwar in weiten Teilen von wirtschaftspolitischen Grundgedanken geprägt, blieb einer der wesentlichen Bestandteile der auf dieser Erklärung fußenden Politik die Neuordnung des Verhältnisses zwischen Politik und Geschichtswissenschaft: Die Geschichte und ihre Vermittlung seien, so Ute Frevert, zur Chefsache geworden und für die folgenden Jahre sei eine forciert nationale Geschichtspolitik festzustellen, deren Ziel sich als ein quasi-offizielles Geschichtsbild charakterisieren lasse. Die regierungsamtlich postulierte Notwendigkeit einer Wende in diesem Bereich wirft die Frage nach Entwicklung und Ausgestaltung des vormals Bestehenden auf. Leitlinie ihrer Beantwortung soll Hermann Lübbes These sein, dass "das deutsche Verhältnis zum Nationalsozialismus in temporaler Nähe zu ihm stiller war als in späteren Jahren unserer Nachkriegszeit".

Für die Nachkriegsjahre und bis in die späten 1950er Jahre hinein, lässt sich die Kenntnis von Art und Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen zunächst als relativ gering bezeichnen. In der Folgezeit habe sich das einschlägige fachliche Wissen zwar langsam gemehrt, es sei jedoch - vermutet Christian Meier - kaum von gesellschaftlicher Resonanz gekennzeichnet gewesen. Die Politik Adenauers war von Abgrenzung gegen sowohl den neuen Feind im Kalten Krieg als auch die nationalsozialistische Vergangenheit geprägt, Kommunismus und Nationalsozialismus waren gleichermaßen Gegenseite. Doch stets legte die Regierung Wert auf die Feststellung, "daß die weit überwiegende Mehrheit der Deutschen an den NS-Verbrechen nicht beteiligt war". Schuld hatten die Nazis, nicht jedoch die Deutschen. Mit geringer Distanz zum verbrecherischen Geschehen, "konnte es in seiner ganzen Ungeheuerlichkeit nicht voll in den Blick kommen". Die nähere Geschichte wurde nicht als belastend empfunden, denn sie war ausgeblendet.

Das Jahr 1958 bildet mit der Gründung der "Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen Ludwigsburg" eine Zäsur in der juristischen Aufarbeitungsgeschichte. Prozessuale Maßnahmen gegen nationalsozialistische Gewaltverbrecher wie Adolf Eichmann 1960, die Mitglieder der Einsatzgruppe Tilsit oder das Lagerpersonal Auschwitz' 1964/65 erregten große Aufmerksamkeit, die Presse berichtete ausführlich und mit der Tendenz, die Notwendigkeit der Prozesse zu verdeutlichen. Die drohende Verjährung aller bis 1945 begangenen Mordtaten führte ebenfalls Mitte der 1960er Jahre zur verstärkten parlamentarischen und öffentlichen Auseinandersetzung mit der Thematik.

Im kulturellen Bereich erfuhren die Jahre 1933 bis 1945 einen deutlichen Bedeutungszuwachs. Friedrich Dürenmatts "Besuch der alten Dame", Peter Weiss' "Ermittlung" und Rolf Hochhuths "Stellvertreter" seien hier für den Bühnenbereich exemplarisch genannt. Besonders die dramatische "Ermittlung" erreichte ein großes Publikum und wurde breit rezipiert. Von Ausblendung läßt sich insofern für die Mehrheit der Bevölkerung der Jahre 1958 bis 1968 nicht mehr sprechen.

Doch erst mit der Hochphase der "68er-Bewegung" ist ein deutlicher Rückbezug vormals abstrakt wahrgenommener Kenntisse über Verbrechen und Verantwortlichkeit im Nationalsozialismus in die Lebenswelten der BundesbürgerInnen festzustellen. In den Jahren ab 1968 wurden von einer kritischen Öffentlichkeit - den nun erwachsenen Nachkriegsjugendlichen - "Erinnerungslücken" aufgedeckt, persönliche Verstrickungen nachgewiesen und Verantwortung vorgeworfen. In systemoppositionellen Entwürfen zukünftiger Gesellschaften war die Abgrenzung zum Nationalsozialismus nicht nur abstraktes Element. Das Hervorgehen der Bundesrepublik aus dem NS selbst und ihr Umgang damit machte den elterlichen Staat des Faschismus verdächtig und ein neues, anderes, antifaschistisches System notwendig. Christian Meier folgert, es seien "aus ungefährdeter Gegenwart heraus die Taten der Eltern und Großeltern vom hohen Roß aus" verurteilt worden. Insgesamt etwas weit gehend, ist diese Beschreibung dennoch für die individuellen Empfindungen der so Beschuldigten sehr zutreffend, "eine tiefe ,Verunsicherung` (wie das damals aufkommende Wort lautete) der Älteren war die Folge".

Die mit dieser Bewegung verbundenen gesellschaftlichen Reformansätze und der "Marsch durch die Institutionen" haben in den siebziger Jahren insbesondere im Bildungsbereich, an den Universitäten, in den Curricula der Kultusministerien und den Schulbüchern zu einer Potenzierung derjenigen Inhalte geführt, die sich mit der NS-Zeit auseinandersetzen. Geistes- und Sozialwissenschaften widmeten sich zunehmend der detaillierten, vorurteilslosen und genauen Untersuchung des NS und seiner Ursachen. In den Medien wurde dem Thema mehr Raum zur Verfügung gestellt. Ende Januar 1979 zeigte der Westdeutsche Rundfunk Marvin Chomskys vierteilige Serie "Holocaust - The Story of the Family Weiss", deren dichte Erzählung das "von uns Angerichtete noch einmal in besonderer Intensität innerhalb weiter Teile der Gesellschaft" nachfühlbar machte.

Zum Ende der siebziger Jahre war also kein Verdrängen, kein Ausweichen, mehr möglich. An einer Charakterisierung des NS als Fremdkörper in der deutschen Geschichte, als "Betriebsunfall", wie in den fünfziger Jahren üblich, war ernstlich nicht mehr festzuhalten. Die zwölf Jahre des "Dritten Reiches" waren Teil der deutschen Geschichtserinnerung. So läßt sich mit Lübbe das Fazit ziehen: "Die Position des Nationalsozialismus hat im Vergangenheitshorizont der Deutschen emotional an Aufdringlichkeit gewonnen, je tiefer er chronologisch in diesen Vergangenheitshorizont zurückgesunken ist."

Für konservative Kräfte stellte sich damit jedoch ein Problem ein: "Zum neuen Staatsbewußtsein der Bundesrepublik [...] gehörte es, über den ,Gesamtzusammenhang der deutschen Geschichte zu verfügen"`. Das Überleben eines Volkes, so hatte Alfred Dregger betont, bedinge elementaren Patriotismus, wie er für andere Völker selbstverständlich sei. Vergangenheitsbewältigung dürfe nicht dazu mißbraucht werden, "unser Volk zukunftsunfähig zu machen".. Und Bundeskanzler Kohl, urteilt Ute Frevert, sei es "immer" darum gegangen, "einen mentalen Schlussstrich unter die unrühmliche Vergangenheit zu ziehen. So ,schrecklich` sie gewesen sei, so wichtig sei es jetzt, vier Jahrzehnte später, den ,Blick nach vorn` zu richten" und, so Kohls zeitweiliger Berater, Michael Stürmer, "aus dem Schatten Hitlers" herauszutreten.

Die postulierte Lösung nach der Übernahme der Regierungsverantwortung hieß Vergangenheitspolitik im Sinne der "geistig-moralischen Wende". Die Auswirkungen auf die Öffentlichkeit lassen sich an der Betrachtung verschiedentlicher, politisch initiierter, nationaler Museumsprojekte und öffentlicher Verlautbarungen und Veranstaltungen verdeutlichen.

Für die musealen Bemühungen konstatiert Ute Frevert, ihre "Planung und Vorbereitung [sei] ganz oder beinahe ausschließlich in die Hände konservativer Historiker" gelegt worden. Die publizierten Konzeptvorstellungen zur inhaltlichen Ausrichtung seien auf scharfe Kritik von linksliberaler und wissenschaftlicher Seite gestoßen, die allerdings weitgehend wirkungslos geblieben sei. So konnte Jürgen Habermas "sich nicht ganz des Eindrucks erwehren, daß auch Gedanken des Neuen Revisionismus in die Gestalt von Exponaten, von volkspädagogisch wirksamen Ausstellungsgegenständen umgesetzt werden sollen". Und der liberale Historiker Jürgen Kocka war in Habermas' Augen "Alibi-Mitglied" der zuständigen Berliner Sachverständigenkommission. Dass beispielsweise die erste Ausstellung des Deutschen Historischen Museums sich dem Reichskanzler Otto von Bismarck widmete und sich darin die Analogien zur Tagespolitik "geradezu aufdrängten", verrate laut Ute Fevert die konservative Handschrift dieser keineswegs politikfernen Einrichtung. Die auf bundespolitischer Ebene arrivierten "Grünen" standen entsprechend den Museumsvorhaben insgesamt kritisch gegenüber, betrachteten ihre Auswirkungen als verharmlosend und favorisierten dezentrale Ansätze des geschichtlichen Forschens und Erinnerns.

In öffentlichen Anlässen spiegelten sich Anspruch und Realität der "Neuen Unbefangenheit" eindrücklich wieder. Zwei Beispiele verdeutlichen dies: Die internationale Wahrnehmung von Helmut Kohls Besuch in Israel 1982 stand ganz im Zeichen einer kurzen Sentenz, in der er die "Gnade" seiner "späten Geburt" betonte und die seine Neigung verdeutlicht habe, seine Generation aus der Verantwortung für die NS-Geschichte zu entlassen. Besondere Brisanz erlangte diese Begebenheit, da die Bundesrepublik Deutschland sich im Begriff befand, Teilen der arabischen Welt Waffensysteme zu liefern.

Vor dem Hintergrund des 40. Jahrestages des Kriegsendes besuchte der damalige US-amerikanische Präsident Ronald Reagan 1985 zunächst das ehemalige Konzentrationslager Bergen-Belsen. Wer den Anstoß hierzu gab, ist fraglich. Sieht Reinhard Kühnl den Druck jüdischer Bevölkerungsgruppen in den USA als Auslöser, vermutete die FAZ am 18. April 1985, die Sowjetunion habe Reagan durch internationalen öffentlichen Druck dazu veranlasst, die Gedenkstätte zu besuchen - und zwar entgegen seinen ursprünglichen Absichten. Im Anschluss gedachten Kohl und Reagan auf dem Soldatenfriedhof Bitburg den Gefallenen des 2. Weltkrieges vor den Gräbern von Wehrmachtssoldaten und Angehörigen der Waffen-SS. Eine symbolträchtige Geste auf Initiative Kohls, die den neuen Umgang mit der jüngeren Geschichte verdeutlichte und liberalen Kritikern zum einen als Schulterschluss gegen die kommunistische Bedrohung, zum anderen als wohl intendierte Verharmlosung der von Teilen der Begrabenen begangenen Verbrechen galt. Besonders die Verbindung beider Ereignisse löste heftige Reaktionen zu ihren nationalpolitisch-symbolischen Implikationen aus:

"Die Aura des Soldatenfriedhofs sollte nationales Sentiment und damit ,Geschichtsbewußtsein` wecken; das Nebeneinander der Leichenhügel im KZ und der SS-Gräber auf dem Ehrenfriedhof [...] bestritt implizit den NS-Verbrechen ihre Singularität; und der Händedruck der Veteranengeneräle in Gegenwart des amerikanischen Präsidenten war schließlich eine Bestätigung dafür, daß wir im Kampf gegen den Bolschewismus immer schon auf der richtigen Seite gestanden haben."

Es stellt sich abschließend die Frage, wie denn die Gesellschaft, wie die BürgerInnen, dieser Politik gegenüberstanden. Die AdressatInnen solcher Symbolpolitik - so läßt sich in wesentlichen Betrachtungen dieser Jahre nachlesen - wiesen größtes Interesse für geschichtliche Erkenntnisse von nationalem Bezug auf. Die Erklärung für ein gegenüber den vorangegangenen Dekaden gesteigertes Anliegen an historiographischen Publikationen und Ausstellungen finden Historiker wie Wolfgang Mommsen in der wirtschaftlichen Entwicklung: Das "Wirtschaftswunder" hatte Mitte der 1970er Jahre zu lahmen begonnen, die Ölkrise war ein schwerer Schock mit spürbaren, alltäglichen Auswirkungen und die D-Mark wies zwischenzeitlich sogar inflationäre Tendenzen auf. Zum ersten Mal schien kein Lösungsansatz der Ökonomen und Marktstrategen Fuß zu fassen und der feste Glaube an eine Zukunft im Wohlstand geriet ins Wanken. "Je unvorhersehbarer und unsicherer sich die Zukunft darbietet, desto mehr wächst das Bedürfnis nach einer historischen Verortung der eigenen Existenz."

Für die Entwicklung von Geschichtserinnerung in der Bundesrepublik läßt sich also feststellen: Bis Anfang der achtziger Jahre hatte sich ein Konsens der Ablehnung des nationalsozialistischen Geschehens herausgebildet. Die Bekenntnis zum Nationalstolz war uneingeschränkt, d.h. ohne eine unmissverständliche Abgrenzung zu diesem Teil der Nationalgeschichte, nicht möglich. Dies brachte in den Augen konservativer EntscheidungsträgerInnen die Notwendigkeit einer Geschichtspolitik mit sich, an deren Ende "der Status des ,Dritten Reiches` neu bestimmt" sein sollte.

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