Kapitel 6: Fazit

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zuletzt geändert am 12.08.2011
um 13:21
von nielo
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Niels Heinemann

Im Mai 2001, 15 Jahre nach dem "Historikerstreit", begann das Hamburger Magazin "Der Spiegel" eine Serie über die "Gegenwart der Vergangenheit" und fragte zu ihrem Auftakt: "Wieso tun sich die Deutschen so schwer mit der Normalität?" Angesichts der Verbrechen der Großväter eine fast eigentümliche Frage. Es scheint - und so ist vielleicht auch Martin Walsers Friedenspreis-Rede vom Herbst 1998 zu interpretieren - als dauere die "negative Lebendigkeit" des Nationalsozialismus an, als seien die konservativen Protagonisten des "Historikerstreits" ihrem Ziel nicht wesentlich näher gerückt.

Der Einfluss geschichtswissenschaftlicher Arbeiten auf das historische Bewusstsein der Öffentlichkeit steht unter politischen Vorzeichen: In einer Gesellschaft wie der Bundesrepublik, die historisch aus einem derart negativ bewerteten Staatsgebilde hervorgeht, ist die Deutung dieser Vergangenheit in erhöhtem Maße konstitutiv für ihr Selbstverständnis. Denn im Gegensatz zu anderen Nationen, die nicht in vergleichbarer Weise aus zeitgenössischen Zivilisationsmaßstäben ausbrachen, birgt hier die unreflektierte Übernahme alles Bestehenden stets die Gefahr der Fortsetzung unseliger Traditionen.

In zweierlei Hinsicht bildeten Erkenntnisse historischer Forschung in diesem Sinne eine Barriere, die das Erwachsen einer konventionellen nationalen Identität erschwerte: Zum einen wurde die verbrecherische Ausgestaltung des Nationalsozialismus nachgewiesen und zum anderen seine Ursächlichkeit in der spezifisch deutschen Geschichte.

Die partielle oder gänzliche Leugnung der ersten Erkenntnis, also der verheerendsten deutschen Verbechen während des 2. Weltkriegs, war in der Literatur der intellektuellen "Neuen Rechten" stets fester Bestandteil. Mit dieser "Auschwitz-Lüge" sollte die Schwere deutscher Verbrechen gemindert werden. Ein Ansatz, der sich in wissenschaftlichen und informierten Kreisen vor dem Hintergrund zahlreicher Forschungsergebnisse selbst disqualifizierte und dessen Brisanz in Abhängigkeit zur ausbleibenden öffentlichen Rezeption gering blieb. Von den konservativen Protagonisten des "Historikerstreits" jedoch hielt keiner eine Revision in diesem Bereich für notwendig oder gerechtfertigt. Über die Ausmaße des Grauens der nationalsozialistischen Vernichtungspraxis bestand größte Einigkeit. Vielmehr sollte die zweite Erkenntnis revidiert, sollten Ursachen und Wurzeln des NS konsequent aus der deutschen Geschichte gerückt werden: Was die geopolitische Besonderheit Deutschlands in Verbindung mit einer unabwendbaren Conditio Humanae nicht erklärte, was also nicht schicksalshaft über die Welt des 20. Jahrhunderts hereingebrochen war, das hatten nun vor allem die sowjetischen Urheber wirksamer Vernichtungstherapien zu verantworten. Wie die "Auschwitz-Lüge" ließe sich dieser Befund für ein unbefangeneres, nationales Bekenntnis nutzbar machen. Darüber hinaus wäre er wirksam gegen das eigentlich verantwortliche Regime der damals gegenwärtigen und feindlichen UdsSR zu ge- und missbrauchen. Ein Effekt, der im Kontext der "geistig-moralischen Wende" den Anschein von Zweckdienlichkeit erwecken musste.

Die Probleme historischer Ursachenforschung wurden oben bereits angeschnitten. Es geht dabei in aller Regel um eine argumentativ schlüssige Interpretation bekannter historischer Fakten. Die vorgebrachten Belege und Argumentationslinien konnten nicht überzeugen. Bisweilen wurde ganz auf eine Untermauerung durch Fakten verzichtet. Keinerlei Aufwand wurde darauf verwendet, das etablierte und damit zu revidierende Forschungsbild vorzustellen und zum Vergleich anzubieten. Letzteres wird umso ausschlaggebender, wenn der Adressat ein nicht in gleichem Maße eingeweihtes Publikum ist: Es muss eine informationelle Grundlage geschaffen werden, auf der die Erklärungsmodelle historischer Ursachen nachvollziehbar werden, auf der ihre Schlüssigkeit überprüfbar wird. Dies wurde erstaunlich wenig beachtet und - in Fällen wie dem des "Melgunov-Büchleins" - irreführend gehandhabt. Auf Grund der Wachsamkeit liberaler WissenschaftlerInnen und Intellektueller gelang es indes nicht, durch solchen Umgang mit historischem Expertenwissen die Notwendigkeit einer Revision als wissenschaftlich gegeben darzustellen. Vielmehr fügte sich dieses Vorgehen in das Bild nationaler Erinnerungspolitik auf dem Weg zum regierungsamtlichen Geschichtsbild. Der politische Charakter wurde auch da offensichtlich, wo er nicht explizit betont wurde. Jede vorgeblich wissenschaftliche These wurde nun auf ihren politischen Beitrag zu Sinnstiftung oder Identitätsbildung geprüft.

Vor allem die in den Jahrzehnten zuvor herausgearbeitete und in langen Debatten erhärtete Sonderwegsthese wies größte Bedeutung für das politische Selbstbewusstsein der Gesellschaft auf. Waren die Ursachen des NS in erster Linie aus der deutschen Geschichte und ihren Traditionen abzuleiten, so ergab sich eine besondere Verantwortung und im Jasperschen Sinne eine kollektive Haftung für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Vormals etablierte Werte, Normen und Strukturen, die sich der Bundesrepublik zur Tradierung anboten, mussten im Ideal zunächst erweisen, was ihr Beitrag zu Installation und Ausgestaltung des Nationalsozialismus gewesen war. Die These vom deutschen Sonderweg konnte sich behaupten.

Für zumindest einige Jahre hatte sich eine liberale Auffassung von geschichtlichem Ort und politischer Bedeutung der spezifisch deutschen Verbrechen durchgesetzt. Inwieweit dies fortdauert, konnte hier nicht untersucht werden. Der "Historikerstreit" ist selbst Geschichte, und die Auseinandersetzungen, die sich ihm bis in die Gegenwart anschlossen boten und bieten durchweg eine ähnliche Brisanz für das historische Selbstbewusstsein der Deutschen. Ihr Beitrag zur "Vergangenheitsbewältigung" bleibt eine offene Frage.

Ebenso ist ungeklärt, inwieweit die von Habermas konstatierte kritische Aneignung dieser Traditionen, die Nutzung von "Auschwitz" als einem Filter kultureller Substanz, tatsächlich Bestandteil bundesdeutscher Realität war. In der zitierten Spiegel-Ausgabe lässt sich eine Zweiteilung feststellen: Auf der einen Seite die von Intellektuellen aufrecht erhaltene Forderung nach Beschäftigung mit dem "Dritten Reich", nach politischer Bildung und zivilisatorischer Wachsamkeit. Auf der anderen Seite stimmten 61 Prozent der Befragten einer Emnid-Umfrage der Aussage zu, man sollte "die NS-Vergangenheit endlich auf sich beruhen lassen und nicht immerzu in alten Wunden stochern". Ob also zur Zeit des Historikerstreits der Durchschnitt der Bevölkerung den Positionen Habermas' zum Durchbruch verholfen und sie damit auch inhaltlich bestätigt hätte, läßt sich nicht allein aus der breiten Unterstützung Intellektueller folgern und könnte im Rahmen einer umfangreicheren Diskursanalyse herausgearbeitet werden.

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