Kapitel 4: Geschichtswissenschaftliche Explikationen

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zuletzt geändert am 12.08.2011
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von nielo
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Niels Heinemann

Kritik und Antikritik innerhalb des "Historikerstreits" formierten sich um einige wenige geschichtswissenschaftliche Themenkomplexe, die stark miteinander verwoben waren. In der vorliegenden Arbeit sollen nicht alle Positionen Raum finden. Vielmehr sollen die wesentlichen Argumente, die den initialen Gedankengebäuden von fachlicher Seite entgegengesetzt wurden, beleuchtet werden, um das Fundament für die Diskussion der politischen Implikationen und Konsequenzen zu liefern.

Um was ging es? Andreas Hillgrubers und Michael Stürmers Publikationen steuerten eine wesentliche Fragestellung zur Debatte bei: Wie stark war der schicksalshafte Einfluß geographischer oder geopolitischer Rahmenbedingungen des deutschen Nationalstaats vor und nach der Jahrhundertwende einzuschätzen, und genauer: war die so genannte "Mittellage" in hervorzuhebender Weise auslösendes Moment für die Entwicklung zum Faschismus nationalsozialistischer Prägung? Ernst Nolte hatte mit seinen Arbeiten und unterstützt von Joachim Fest schließlich zwei weitere und stark interdependente Fragen angeschnitten: War der Holocaust, war die nationalsozialistische "Endlösung der Judenfrage" eine therapeutische Maßnahme gegen die Wirrungen der Moderne und ihrer Revolutionen? Und trug er im Bezug auf das stalinistische Russland den Charakter einer ursächlich abhängigen und quasi-präventiven Handlung?

Gemeinsam war diesen Fragen zunächst, dass sie die Ursachen historischer Zustände erhellen wollten, dass ihre Beantwortung weniger durch das Zusammentragen historischer Fakten gewährleistet werden konnte als durch Gewichtung und Interpretation bestehenden Wissens. Eberhard Jäckel hat in diesem Zusammenhang festgestellt, dass der Terminus der Ursache für Historiker ein "außerordentlich schwieriger Begriff" sei. "Ursachen sind ja nicht etwas, das man irgendwo finden und dann vorzeigen kann. Historische Ursache ist eigentlich nur ein anderes Wort für die Erklärung, die der Historiker über einen Vorgang liefert, nachdem er ihn beschrieben hat". Insofern handelte es sich hier um einen Streit um das Maß an Überzeugungskraft, das einem angebotenen Erklärungsansatz innewohnt, und die Dichte der Belegführung wurde zentraler Punkt jeden Arguments.Nach oben

Über den oder die deutschen Sonderwege in den Nationalsozialismus ist - wie wir oben gesehen haben - viel gestritten worden. Im Kontext des "Historikerstreits" geriet diese Frage implizit wieder in eine herausgehobene Position. Vor allem die von Stürmer, Hillgruber und anderen vertretene These, dass die geographische und außenpolitische "Mittellage" Deutschlands mehr noch als politische Entscheidungen ursächlich für den ersten Weltkrieg und Deutschlands Weg ins "Dritte Reich"gewesen sei, erlangte hier einige Brisanz.

Besonders dezidiert machten mit Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka folgerichtig die Vertreter einer kritischen Sonderwegsthese auf die Schwachstellen eines geopolitischen Erklärungsansatzes aufmerksam. Die Frage nach der gänzlich unterschiedlichen Entwicklung vergleichbar gelegener mitteleuropäischer Staaten wie der Schweiz bleibe unbeantwortet. Zudem deute die Vielfalt der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Formationen im deutschsprachigen Raum kaum auf einen hohen Einfluss jenes statischen, über die Jahrhunderte immer gleichen Passepartout "Mittellage". Die Heranziehung geographischer Kategorien gebiete jedoch größte argumentative Stringenz - schon deshalb, da sie keinesfalls neu sei und zudem bereits unter den Nationalsozialisten als "ideologische Leitwissenschaft" missbraucht worden sei. Diese begriffliche Vorbelastung sei indes durch die heutigen Protagonisten dieser Theorie weder erkennbar gemacht noch sei eine Abgrenzung erfolgt. Und das von Stürmer wiederholte Diktum Rankes, dass das Maß der inneren Freiheit eines Staates abhängig sei vom äußeren Druck, der auf ihm laste, sei ebenfalls nicht ernstlich glaubhaft gemacht.Nach oben

Stürmers im letzten Kapitel vorgestellte, im Rahmen des "Historikerstreits"jedoch kaum diskutierte, Gedanken zu den "Katarakten" der Modernität lassen sich in einem allgemeinen Sinn mit Noltes Wirrungen der Moderne als Ursachenbeschreibung für den Nationalsozialismus zusammenführen. Ob aber die Vernichtungspolitik des entstehenden Regimes bereits unverzichtbares Element einer solchen Reaktion sein musste, läßt sich bei Michael Stürmer nicht nachweisen. Ernst Nolte indes erklärte den Holocaust selbst explizit zur "Begleiterscheinung der Moderne", die Vernichtung einer Gruppe von Menschen zur therapeutischen Praxis gegen die Folgen der Industriellen Revolution und ihrer Folgeunruhen. Besonders der "Bolschewismus", als eine dieser reaktiven Unruhen, habe insgesamt und vor allem mit der ihm eigenen Vernichtungspraxis den Holocaust ausgelöst. Das weiter oben ausführlicher vorgestellte Erklärungsmodell war sicherlich der am breitesten rezipierte und kommentierte historiographische Komplex des "Historikerstreits", in dessen Verlauf es sich wiederum in zwei Argumentationsstränge gliederte: Es waren dies die Debatten um zum einen die Vergleichbarkeit und Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik und zum anderen um die Ursächlichkeit der stalinschen Vernichtungspraxis für den NS-Völkermord.

Die generelle Vergleichbarkeit historischer Phänomene wurde im wissenschaftlichen Bereich allenfalls zum Mittelpunkt einer Scheinauseinandersetzung. Alle Parteien des Streits betonten schließlich die Notwendigkeit, im historischen Erkenntnisprozess komperative Ansätze zu verfolgen. Allerdings gelte für einen synchronen Vergleich, dass "die Vergleichsgrößen ,stimmig` sein" müssen und es sei, so Jürgen Kocka, im vorliegenden Fall zweifellos "ertragreicher, angemessener und gerechter, Weimar-Deutschland und Hitler-Deutschland mit dem zeitgenössischen Frankreich oder England", d.h. dem in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht auf gleicher zivilisatorischer Ebene sich befindenden westlichen Europa, zu vergleichen. Hielt Joachim Fest diese Einschränkung auf Westeuropa für unzulässig, da sie die Fortsetzung der alten "Nazi-Unterscheidung [ist], wonach es höhere Völker gibt und Völker auf primitiverer Stufe, die nicht einmal vom Tötungsverbot wissen", so erwiderte Kocka, die Wahl solcher Vergleichsgrößen sei zum einen im "zivilisationsgeschichtlichen Wissen über den Zusammenhang von ökonomischem Entwicklungsstand und Möglichkeiten gesellschaftlich-politischer Organisation" und zum anderen in der europäischen Tradition begründet, aus der "Aufklärung, Menschenrechte und Verfassungsstaat nicht weggedacht werden können". Hans Mommsen sah schließlich eine direkte Gefahr in der Bildung von Analogieschlüssen zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus: Sie seien "geeignet, bloß äußerliche Gemeinsamkeiten für die konstitutiven zu halten.Nach oben

Für die aus der vergleichenden Perspektive sich ergebende Frage der Singularität der NS-Gewaltverbrechen ist mit Eberhard Jäckel und anderen eine begriffliche Teilung vorzunehmen: Der trivialen Problematik der Einmaligkeit historischer Ereignisse war schnell Abhilfe zu schaffen, denn "jedes Ereignis ist insofern einmalig, als es niemals mit einem anderen ganz gleich ist". Die deutlich darüber hinaus gehende Einzigartigkeit, so folgerten Kocka, Jäckel und Wehler aus ihrer Analyse der historischen Bezugsgrößen Noltes, werde von Nolte durch vergleichende Forschung diachroner Art eingeschränkt. Für Kocka leitet sich die Singularität des Holocaust eben aus dem Rückfall hinter etablierte westeuropäische Zivilisationsstandards ab: "Wie könnte man es rechtfertigen, die nationalsozialistische Vernichtungspolitik nicht auf diesem Hintergrund einmal erreichter, nunmehr tief verletzter Ansprüche einzuordnen?" Und Wehler urteilt, Noltes allgemeine Einordnung des Holocaust in eine Kette von Genoziden und seine speziellere Gleichsetzung von Klassenmord und Rassenmord widerlege eben nicht die "klassische Kurzdefinition" Jäckels,

"daß der nationalsozialistische Mord an den Juden deswegen einzigartig war, weil noch nie zuvor ein Staat mit der Autorität seines verantwortlichen Führers beschlossen und angekündigt hatte, eine bestimmte Menschengruppe einschließlich der Alten, der Frauen, der Kinder und der Säuglinge möglichst restlos zu töten, und diesen Beschluß mit allen nur möglichen staatlichen Machtmitteln in die Tat umsetzte."
Zudem liege ein wesentlicher Unterschied der NS-Judenpolitik zur stets herangezogenen frühen sowjetischen Bauernpolitik darin, dass prinzipiell "viele der russischen Bauern Optionen besaßen", kein Jude jedoch "je irgendeine Optionschance besessen" habe.

Die eigentliche Novität in Noltes Text zur "Vergangenheit, die nicht vergehen will" stellte allerdings das Postulat einer wahrscheinlichen kausalen Verbindung zwischen Installation und Ausgestaltung des "Archipel Gulag" und der "Endlösung der Judenfrage" dar. Hier hatte Nolte aus seinen frühen Ursachenanalysen für die europäischen Faschismen in deduktiver Weise einen Wirkungszusammenhang zur Erklärung der Genese nationalsozialistischer Vernichtungspolitik vorgeschlagen. Seine oben vorgestellte Belegführung über Hitlers psycho-paranoides Gedankengebäude stieß bei einschlägig renommierten HistorikerInnen sowohl funktionalistischer als auch intentionalistischer Prägung auf deutliche Kritik. Eberhard Jäckel konstatiert, Noltes Ansatz entbehre nicht nur einer rationalen Begründung, die Stichhaltigkeit einer solchen Herleitung sei auch durch Hitlers gemeinhin bekannte Äußerungen zu seinen Gründen für Antibolschewismus und Antisemitismus hinreichend zu widerlegen. Der Bolschewismus sei zur Verbreitung von Angst unter nationalsozialistischen Führungskräften gänzlich ungeeignet gewesen, denn Grundlage des Russlandbildes sei die Vorstellung eines jüdisch geführten "Koloß auf tönernden Füßen" gewesen, in dem Hitler niemals ein Risiko gesehen habe. Der "abstrusen Assoziationskette" um das angeblich verschollene Melgunov-Büchlein und um den "Rattenkäfig" als sinnbildliche Repräsentation "asiatischen" Handelns begegnete Hans-Ulrich Wehler durch mehrmaligen Nachweis der Druckausgabe und verwies auf die Zweifelhaftigkeit dieser Quelle als einer "außerordentlich schütteren, abschreckend schwankenden Grundlage" Noltes genealogischen Erklärungsansatzes. Hans Mommsen erklärte die "Stipulierung einer kausalen Verbindung zwischen Archipel Gulag und Auschwitz [für] nicht nur methodisch unhaltbar, sondern auch in ihren Prämissen und Schlußfolgerungen absurd". Ergebnis sei eine Ablenkung von der maßgeblichen Mitverantwortung der militärischen und bürokratischen Kräfte.

Im Hinblick auf Noltes Thesen rief Martin Broszat die Bedeutung "gewissenhafter Argumentation als A und O der Beurteilung ihrer Wissenschaftlichkeit" in Erinnerung und attestierte dem Kollegen eine "Verachtung empirisch-historischer Vorgehensweisen" bei der Überschreitung solcher Sorgfaltsgrenzen. Für Wehler war negative Quintessenz der historiographischen Teildebatte im "Historikerstreit" insgesamt, dass "unverzichtbare Standards der geschichtswissenschaftlichen Arbeit und der erkenntnistheoretischen Reflexion eklatant verletzt" worden seien. Und Eberhard Jäckel konstatierte, mit dem "Historikerstreit" werde ein "Verwirrspiel" aufgeführt, bei dem Aussagen in Frageform vorgetragen worden seien, "um anzudeuten, was nicht belegt werden kann oder soll, und wer bei dem Spiel ertappt wird, erwidert mit Empörung und unschuldiger Miene, man werde ja noch fragen dürfen".