Kapitel 3.1: Geschichtsbilder des NS in der Forschung der BRD
In der Geschichtswissenschaft der 50er Jahre dominierte ein nationalkonservatives Geschichtsbild, das die NS-Zeit als wesensfremde Entwicklung darstellte und als Erklärungsansatz eine Kombination aus Führungstheorie und Totalitarismusthese favorisierte. Überwiegend war jedoch sowohl für die 50er als auch für die frühen 60er Jahre nicht nur die öffentliche sondern auch die akademische Diskussion von einer Verdrängung der jüngsten Geschichte geprägt. Ausnahmen bildeten in den 60er Jahren die Publikationen des Münchener Instituts für Zeitgeschichte, vor allem deren Gutachten im Zusammenhang des Frankfurter Auschwitzprozesses 1964, die wichtige Beiträge im Rahmen einer Haupttäterforschung leisteten. Ebenfalls zu nennen sind die Arbeiten des Frankfurter Instituts für Sozialgeschichte, die Antisemitismus und Rassismus in ihren Zusammenhängen mit dem "autoritären Charakter" und dessen Nützlichkeit für Herrschaftsinteressen untersuchten, jedoch in der Öffentlichkeit kaum rezipiert wurden.
Der sich in den 70er Jahren vollziehende Paradigmenwechsel innerhalb der Geschichtswissenschaft von der Politik- zur Struktur- und Sozialgeschichte gab schließlich auch der NS- und Holocaustforschung weiterführende methodologische Impulse. Hans-Ulrich Wehler beispielsweise lieferte eine differenzierte Strukturanalyse der deutschen Gesellschaft und ihrer Politik zwischen 1871 und 1918 und verwies im Zusammenhang damit auf die Kontinuitäten zwischen deutschem Kaiserreich und Nationalsozialismus. Er fundierte damit die seit den 60er Jahren in gewandelter, kritischer Form wieder aufgegriffene These vom deutschen Sonderweg, die der Frage nachging, warum Deutschland im Vergleich zu den ähnlich entwickelten westlichen Ländern in den 30er Jahren faschistisch bzw. totalitär wurde. Als entscheidendes Moment galt hierbei die im Kaiserreich ausbleibende politische und soziale Demokratisierung bei gleichzeitiger ökonomischer und technischer Modernisierung. Diese Entwicklung wurde in der spezifischen preußischen Gesellschaftsstruktur und dem preußischen Staat angelegt gesehen, dessen Staatsidee auf einer Trennung von Nationwerdung und freiheitlich-demokratischer Verfaßtheit beruhte. Wehler verstand diese spezifisch deutsche Entwicklung als Ausdruck unvollkommener Modernisierung mit weitreichenden Folgen. Die Weigerung der kaiserlichen Machteliten, einen Übergang zu modernen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen einzuleiten, habe zu einer Verfestigung vormoderner sozialer Strukturen geführt, die sich bis 1945 und in machen Bereichen sogar darüber ausgewirkt hätten: "In der Anfälligkeit für autoritäre Politik; der Demokratiefeindlichkeit im Bildungs- und Parteiwesen; im Einfluß vorindustrieller Führungsgruppen, Normen; Wunschbilder; in der Zähigkeit der deutschen Staatsideologie; im Mythos der Bürokratie; (...) in der Manipulation des politischen Antisemitismus".
Diese sogenannte "kritische" Sonderwegsthese wurde vielfach angegriffen und in Frage gestellt. Nipperdey beispielsweise sah die Ursachen des NS zwar ebenfalls in der spezifisch deutschen Entwicklung begründet, lehnte aber schon 1979 Wehlers Ansatz der partiellen Modernisierung ab. Wichtiger als die verzögerte politische Modernisierung sei die von ihm für Deutschland postulierte so genannte Modernitätskrise gewesen, die daraus entstand, dass "die Modernisierung (...) in Deutschland in vieler Hinsicht schnell und hektisch [verlief], viel Ungleichzeitiges war darum gleichzeitig und viele Spannungen intensivierten sich (...)." Problematisch sei zudem die Reduktion der deutschen Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf eine Vorgeschichte von 1933. Diesen Punkt unterstrich auch Broszat 1985 nachdrücklich. Er konstatierte für diesen Zeitpunkt zudem, es gäbe mittlerweile weitgehende Übereinstimmung darüber, dass weniger der Wilhelminismus als vielmehr der Erste Weltkrieg mit seinen Folgen und "die in seinem Kielwasser entstandene Gefährdung der bolschewistischen Revolution" den "eigentlichen Auftakt" des Nationalsozialismus gegeben hätten. Aus diesen beiden Faktoren sei die "Epoche des Faschismus" hervorgegangen, so Broszat unter explizitem terminologischen Bezug auf Ernst Nolte, und zwar in Form "nationalistischer Protestbewegungen vor allem in den Verlierer-Nationen oder bei den Zukurzgekommenen (Italien, Ungarn)". Über die Ursachen für die spezifisch deutsche Variante des Faschismus schwieg er sich zumindest an dieser Stelle aus.
Kocka sah denn auch 1989 noch die Grundlinien der Sonderwegs-Interpretation als nicht revidiert an, so zum Beispiel im Hinblick auf die Bedeutung des mächtigen Militärwesens, der starken staatlichen Bürokratie, des starken Einflusses der Agrarier und der antidemokratisch-nationalistischen Ausrichtung weiter Teile der Bevölkerung für den Aufstieg des NS.
Nicht nur im Hinblick auf die Wegbereiter des NS sondern auch in der Holocaustforschung bildeten sich bei zunehmender Detailkenntnis und unter Einbeziehung neuer Forschungsmethoden im Laufe der 70er Jahre fundierte Positionen heraus. Sie spalteten sich in zwei gegensätzliche Lehrmeinungen auf, die der sogenannten Intentionalisten und die der Funktionalisten. Die Intentionalisten, zu denen beispielsweise Eberhard Jäckel und Klaus Hildebrand gehörten, betonten die zentrale Position Hitlers innerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftssystems und argumentierten auch im Hinblick auf die Vernichtung der Juden, diese sei von Anfang an Hitlers Projekt, Ausdruck seiner Weltanschauung und Zielpunkt seiner anti-jüdischen Politik gewesen. Die Funktionalisten, unter ihnen z.B. Martin Broszat und Hans Mommsen, die sich den neueren sozialwissenschaftlichen Forschungsansätzen zuwendeten, lehnten diesen eher monokausalen Erklärungsansatz ab. Mommsen beschrieb stattdessen in den 80er Jahren die "amorphe Führungsstruktur" (Polykratie) des NS-Regimes und diagnostizierte eine "systematisch erscheinende Nicht-Koordination" an dessen Spitze. Die Vernichtung der Juden wird dementsprechend auch nicht dem absoluten Willen Hitlers sondern einer inneren Dynamik des Herrschaftssystems zugerechnet, der Wechsel von einer Vertreibungs- hin zu einer Vernichtungsperspektive auf das Jahr 1941 datiert. Broszat arbeitete auf der Grundlage von Tagebucheinträgen Goebbels', Briefen Himmlers und Äußerungen Hitlers bei "Tischgesprächen" im Führerhauptquartier seine von Mommsen geteilte These heraus, dass die "Endlösung" in engem Zusammenhang mit den ausbleibenden Erfolgen an der Ostfront bei gleichzeitig anhaltender massenhafter Deportation von Juden ins besetzte Polen gesehen werden müsse. "Die Judenvernichtung entstand, so scheint es, nicht nur aus vorgegebenem Vernichtungswillen, sondern auch als ,Ausweg` aus einer Sackgasse, in die man sich selbst manövriert hatte. Einmal begonnen und institutionalisiert, erhielt die Liquidierungspraxis jedoch dominierendes Gewicht und führte schließlich faktisch zu einem umfassenden Programm.
Revisionistische Ansätze innerhalb der Holocaustforschung existierten bis zum Ausbruch des "Historikerstreits" nur außerhalb der geschichtswissenschaftlichen Diskussion. Ihre Grundzüge wurden außerhalb der BRD entwickelt, beispielsweise von David Irving (GB) und Fred Leuchter (USA) oder Ernst Zündel (Kanada). Erst als in den 70ern das öffentliche Interesse an NS und Holocaust stieg, erschienen auch hierzulande entsprechenden Publikationen. Innerhalb der Fachwissenschaft wurden sie jedoch nicht rezipiert. Das Urteil des Bundesgerichtshofs vom September 1979, das die Leugnung des Mordes an den europäischen Juden für strafbar erklärte, trug möglicherweise dazu bei, diese Diskussion in der Öffentlichkeit zu beschränken.
Methodisch ließ sich in den frühen 80ern in der NS-Forschung analog zur innerdisziplinären Diskussion ein Trend zu alltagsgeschichtlichen Untersuchungen beobachten. Mit dieser mikrohistorischen Ausrichtung sollte die subjektive Erfahrung und Wahrnehmung historischer Prozesse seitens der betroffenen Menschen in den Blick kommen. Hermeneutische Methoden bekamen damit Vorrang vor analytischen. Die Vorstellung einer Linearität innerhalb der Geschichte (wie sie Wehlers Modernisierungsidee immanent ist) wurde abgelehnt. Betont wurde statt dessen die Existenz einer Vielzahl von Geschichten im subjektiven Erleben. Vertreter der Sozialgeschichte sahen in der Alltagsgeschichte zwar prinzipiell eine "Bereicherung der Geschichtswissenschaft" und eine sinnvolle Ergänzung zur Analyse der gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse, kritisierten aber eine "anti-analytische Grundstimmung" und sahen hierin die Gefahr eines Rückfall(s) in den Historismus. Wie abweichend vom strukturgeschichtlichen NS-Bild die Befunde der Oral-History sein können, zeigen beispielsweise Lutz Niethammers Ruhrgebietsstudien.
Eine grundsätzliche Bilanz zum Umgang der Geschichtswissenschaft mit dem NS zog 1985 Martin Broszat in seinem Aufsatz: "Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus". Gesamtdarstellungen über das Dritte Reich bescheinigte er darin eine "auffällige Kargheit der Farbgebung" und verstand darunter zum einen pauschale Distanzierung vom NS, zum anderen die Tendenz zu einer Abschottung der zwölf Jahre nach hinten wie nach vorne. "Aus der Geschichte der nationalsozialistischen Diktatur ist noch keine Geschichte der nationalsozialistischen Zeit geworden." Noch immer werde das katastrophale Ende a posteriori als dominierender Erklärungsansatz für Motive, Instrumente, Etappen des NS genutzt, auch gesellschaftliche Veränderungen würden vornehmlich im Hinblick auf ihre herrschaftssichernde Funktion untersucht. Dabei hätte die historiographische Einzelforschung längst periodenübergreifende Zusammenhänge herausgearbeitet. Broszat verwies z.B. im Zusammenhang mit den WählerInnenmobilisierungserfolgen der NSDAP darauf, dass hierin auch ein "Stück nachgeholter sozialer bürgerlicher Revolution" gesehen werden könne, eine Antwort auf bis dato unterbliebene gesellschaftliche Reformen "wenn auch mit rückwärts gewandter Ideologie". Eine Übereinstimmung mit der Weltanschauung Hitlers sei nicht Grundlage der Massenbasis gewesen. Ein anderes Beispiel für die "soziale Dynamisierungsfunktion des Nationalsozialismus" liefert Broszat zufolge der von der DAF entwickelte Plan einer allgemeinen Volksversicherung, mit dem auf nicht-NS-spezifische demographische Entwicklungen reagiert worden sei und dessen Gedanken in der BRD wieder aufgegriffen wurden. Historisierung des NS bedeutet für Broszat also, den NS in all seinen Facetten nicht nur aus sich selbst zu erklären, sondern auch innere Widersprüche und Kontinuitäten über die Epochengrenzen hinweg aufzudecken. Hierzu differenzierte er zwischen einerseits der nationalsozialistischen Weltanschauung und ihren Folgen, die für keinerlei Revision durch geschichtliches Verstehen zugänglich seien und andererseits "fehlgeleiteten Motiven, Veränderungsbedürfnissen und Problemlösungsanstrengungen unterhalb der Schwelle nationalsozialistischer Weltanschauungspolitik". Im Hinblick auf letztere sei es wichtig, "das scheinbar nur NS-spezifische ein(zufügen) in die weitere Perspektive periodenübergreifender Veränderungen der deutschen Gesellschaft". Die Problematik des Unterfangens war Broszat durchaus bewußt: "Die Schwierigkeit der Historisierung der nationalsozialistischen Zeit besteht vor allem, noch immer darin: dies zusammenzusehen und gleichzeitig auseinanderzuhalten: das Nebeneinander und die Interdependenz von Erfolgsfähigkeit und krimineller Energie, von Leistungsmobilisierung und Destruktion, von Partizipation und Diktatur." Dennoch sei Historisierung notwendig, denn zum einen habe sich die Moralität der Betroffenheit, die einmal Hintergrund der Distanzierung gewesen sei, bereits stark erschöpft, so dass das "zur Stereotopie (sic!) verflachte Diktum der ,nationalsozialistischen Gewaltherrschaft` (...) wohl nur durch stärker differenzierende historische Einsicht auch moralisch neu erschlossen werden (könne)", zum anderen sei die Abschottung der NS-Zeit von der übrigen deutschen Geschichte letztendlich auch eine Form der Verdrängung, die die Zeit davor und danach "heil" erscheinen lasse.
Dies war die historiographische Ausgangsbasis auf der sich der Streit entwickelte: im Rahmen der NS- und Holocaustforschung waren im Laufe der siebziger und achtziger differenzierte Bilder gezeichnet und profunde Quelleninterpretationen geleistet worden. Die Ursachen des Aufstiegs des NS galten als vornehmlich in der deutschen Geschichte begründet, sei es bereits angelegt in der Struktur des Kaiserreichs, sei es in Reaktion auf die Folgen des verlorenen Ersten Weltkrieges. Die Genese des Holocaust war Bestandteil wissenschaftlicher Auseinandersetzungen, seine Singularität war jedoch ebenso unbestritten wie seine tiefe Verankerung im deutschen Antisemitismus. Ein generelles Nachdenken über den geschichtswissenschaftlichen Umgang mit dem NS war durch Broszats Plädoyer für eine Ablösung moralisierender zugunsten stärker historisierender Perspektiven angestoßen, auf ihn sollten sich im "Historikerstreit" beide Seiten berufen. Historisierung oder Apologie war der argumentative Spannungsbogen, zwischen dem sich der "Historikerstreit" auf der geschichtswissenschaftlichen Ebene entfaltete.