Kapitel 3.2: Ernst Nolte - Der Holocaust als "Vernichtungstherapie"

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zuletzt geändert am 12.08.2011
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von nielo
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Susann Fegter

Der zum Zeitpunkt des "Historikerstreits" als Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin tätige Ernst Nolte, Jahrgang 1923, studierte zunächst Philosophie und promovierte in diesem Fach über "Selbstentfremdung und Dialektik im deutschen Idealismus und bei Marx". Erst nach anschließender Tätigkeit im höheren Schuldienst veröffente er 1963 eine Monographie über den "Faschismus in seiner Epoche" mit der er im darauffolgenden Jahr an der Universität Köln habilitiert wurde.

Als ein Moment unter anderen findet sich bereits hier seine These vom Faschismus als einer Antwort und Reaktion auf den Bolschewismus, die er in den folgenden zwei Jahrzehnten unter Einbettung in die Folgen der Industrielle Revolution zum zentralen Fundament seiner Geschichtsdeutung herausarbeitet. 1974 erscheint "Deutschland und der Kalte Krieg", wiederum 10 Jahre später "Marxismus und Industrielle Revolution". Im Nachhinein will Nolte diese drei Werke als "Trilogie zur Geschichte der modernen Ideologien" verstanden wissen. Sein unbefangener Umgang mit Auschwitz als historischer Vergleichsgröße provoziert zunächst nur auf Seiten zweier amerikanischer Historiker entschiedene Kritik. Die meisten westdeutschen HistorikerInnen geben sich statt dessen der Hoffnung hin, dass es sich "vermutlich um gelegentliche und daher verzeihliche exzentrische Überspitzungen eines angesehenen Kollegen handele (...)".

Zwei Aufsätze Noltes rücken schließlich im "Historikerstreit" in den Blickpunkt der Kritik, die beide für Fachtagungen konzipiert, über die FAZ schließlich aber auch einem breiten Laienpublikum zugänglich gemacht wurden. Der erste stammt bereits aus dem Jahr 1980 und lag einer damals gehaltenen Rede in der Carl-Friedrich von Siemens-Stiftung zu Grunde. Sein Titel: "Zwischen Geschichtslegende und Geschichtsrevisionismus - das Dritte Reich im Blickwinkel des Jahres 1980". In gekürzter Fassung erscheint dieser Text abgedruckt in der FAZ vom 24. Juli 1980. Kritische Reaktion hierzu sind aus diesem Zeitraum nicht überliefert.

Der zweite Aufsatz "Vergangenheit, die nicht vergehen will. Eine Rede die geschrieben aber nicht gehalten werden konnte" erscheint am 6. Juni 1986 ebenfalls in der "FAZ" und liefert den eigentlichen Stein des Anstoßes, auf den hin Jürgen Habermas seine Recherche beginnt und letztendlich seinerseits in der "Zeit" an die Öffentlichkeit tritt.

Ausgangspunkt beider Aufsätze Ernst Noltes sind Ausführungen zu dessen Verständnis von Vergangenheitsbewältigung. Unter einem "normalen Vergehen der Vergangenheit" versteht Nolte zwar keineswegs ein "Verschwinden", aber doch einen "Entkräftigungsvorgang", der den vergangenen Zeiten für die Zeitgenossen "das Bedrängende" nehme, wodurch "sie den Historikern überlassen" werden könnten. Als Beispiel hierfür nennt er den Umgang mit dem Zeitalter des Ersten Napoleons 35 Jahre nach dessen Ende. Der NS dagegen erscheint Nolte 35 Jahre nach seinem Ende "immer noch lebendiger und kraftvoller zu werden" und wie ein "Richtschwert über der Gegenwart aufgehängt" zu sein.

Als durchaus "gute Gründe" für diese "negative Lebendigkeit" des NS in der Gegenwart nennt Nolte verschiedene Aspekte, beispielsweise, dass Deutschland den größten und opferreichsten Krieg begonnen, außerdem anachronistische Werte vertreten, die "singuläre" Gewalttat des Holocaust begangen habe und seine Führungsriege sich außerdem durch ihre "immanente Lächerlichkeit" selbst diskreditiere. Weitere Gründe für die negative Lebendigkeit seien darüber hinaus die Darstellung des NS in der (Fach-)Literatur, die Nolte kurz und bündig als im Kern "Katastrophen und Anklageliteratur" bezeichnet, außerdem die Funktionalität eines soliden Feindbildes in Anbetracht der "Verwirrung der Gegenwart", in der "die beiden Supermächte Jahr für Jahr mehr Geld ausgeben, als Hitler von 1933 bis 1939 ausgegeben habe." Einen weiteren "guten Teil" seiner Lebendigkeit verdanke das Dritte Reich zudem seiner Instrumentalisierung durch solche, die - wie Nolte annimmt - mit ihrer Kritik im Grunde die BRD bzw. das kapitalistische System treffen wollten.
Insgesamt stelle die negative Lebendigkeit des Dritten Reichs eine große Gefahr für die Wissenschaft dar, da sie in sich den Charakter des Mythos trage, Legendenbildung begünstige und damit zur "stützenden Staatsideologie" werden könne. Auch liege ihr kollektivistisches Denken zugrunde, das schon den NS begünstigt habe und das es zu überwinden gelte.

Tatsächlich sei für die Gegenwart (also 1980) zu konstatieren, dass die einfachsten Regeln für den Umgang mit Vergangenheit im Hinblick auf den NS außer Kraft gesetzt seien: "nämlich daß jede Vergangenheit mehr und mehr in ihrer Komplexität erkennbar werden muß (...), daß die Schwarzweißbilder der kämpfenden Zeitgenossen korrigiert werden, daß frühere Darstellungen einer Revision unterzogen werden.". Hieraus resultiere eine als "paradox oder auch grotesk [zu] bezeichnende (Situation)." Zum Beleg hierfür führt er an, dass beispielsweise im Kontext von Bitburg die "einfache Frage" nicht zulässig gewesen sei, "was es bedeutet haben würde, wenn der damalige Bundeskanzler sich 1953 geweigert hätte, den Soldatenfriedhof von Arlington zu besuchen, und zwar mit der Begründung, dort seien auch Männer begraben, die an den Terrorangriffen gegen die deutsche Zivilbevölkerung teilgenommen hätten."

Vor diesem Hintergrund drängt sich für Nolte die Frage auf, ob "die Geschichte des Dritten Reiches heute, 35 Jahre nach dem Ende des Krieges, möglicherweise einer Revision (bedürfe)" und worin diese bestehen könne. Ohne daran rütteln zu wollen, dass "der innerste Kern des negativen Bildes (...) weder revisionsbedürftig noch revisionsfähig" sei , legt Nolte in einem ersten Schritt nahe, das Dritte Reich in eine "neuartige" bzw. in Anlehnung an David Irving in eine "umfassendere Perspektive" zu stellen.

Hierzu gehöre beispielsweise, den Holocaust im Kontext von Konzepten einer "Klassen und Gruppenvernichtung" zu sehen, wie sie sich - laut Nolte - seit Beginn der Industriellen Revolution als Antwort auf deren soziale Folgen herausbildeten. Nolte bedient sich an dieser Stelle medizinischer Metaphorik und spricht von "Therapievorschlägen" auf die "von den am meisten betroffenen bzw. sensibelsten Schichten" als "Krankheit" interpretierten Vorgänge der Industriellen Revolution. Zu diesen Therapievorschlägen zählt Nolte auf der theoretischen Ebene beispielsweise Arbeiten wie die des englischen Agrarreformers Thomas Spencer, der zur Beseitigung der Klasse der Landlords zugunsten einer Souveränität der Pfarrgemeinden am Grundbesitz aufrief oder John Gray, der 1825 über die Nützlichkeit verschiedener Klassen der Gesellschaft spekulierte. Als Versuche einer praktischen Umsetzung der "Vernichtungstherapien" nennt Nolte die Französische Revolution von 1789, die englische Reformbill von 1832 und die deutsche Revolution von 1918. Tatsächlich "erfolgreich" habe jedoch erst die bolschewistische Revolution in Rußland das Konzept der Gruppenvernichtung umgesetzt. Insgesamt gehörten auch die nationalsozialistischen Vernichtungsmaßnahmen in diesen Zusammenhang. Sie seien damit eben kein "Rückfall in die Barbarei" sondern im Gegenteil implizite Begleiterscheinung der Moderne mit ihren beängstigenden Umwälzungen, wie sie in geschlosseneren Gesellschaften nicht möglich gewesen seien.

Neben dieser Einbettung des Holocaust in eine postulierte Reihe von "Vernichtungstherapien" in Reaktion auf die Moderne arbeitet Nolte einen zweiten Aspekt heraus, in dem das Bild des Dritten Reiches seiner Meinung nach einer revidierten Darstellung bedürfe. Dabei handelt es sich um die von ihm behauptete Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen den Vorgängen der bolschewistischen Revolution 1917/18 und dem Vernichtungswillen der Nationalsozialisten. Zwar habe dieser auch eigenständige Wurzeln besessen, (nämlich erstens die Vernichtungslehren der frühen Rechten, die sich in Reaktion auf den Terror der Französischen Revolution entwickelt hätten, zweitens den radikale Flügel des Malthusianismus, der der Bewölkungszunahme mit Vorschlägen zur Vergasung "überzähliger Kinder" begegnet sei und drittens die von Napoleon abgekupferte militärische Vernichtungsstrategie des preußischen Militärs,) aber die zentrale "Hauptvorbedingung" sei doch eine andere gewesen: "Auschwitz resultiert nicht in erster Linie aus dem überlieferten Antisemitismus und war im Kern nicht ein bloßer ,Völkermord`, sondern es handelt sich vor allem um die aus Angst geborene Reaktion auf die Vernichtungsvorgänge der Russischen Revolution."

Nolte begründet diesen Zusammenhang mit dem Hinweis darauf, dass "Vernichtungstherapien" von "ungewöhnlicher Dimension", wie er sie der Russischen Revolution bescheinigt, in den Nachbarländern "überaus heftige und möglicherweise irrationale Reaktionen hervorrufen" könnten. Dies sei in Deutschland zum einen auf Grund seiner räumlichen Nähe, zum anderen seiner krisenhaften geistigen und ökonomischen Situation der Fall gewesen. Hier hätte die Reaktion eine andere sein müssen als im entfernteren Westen, also Frankreich, England und den USA.

Als Beleg für den "kausalen Nexus" zwischen den bolschewistischen und den nationalsozialistischem Verbrechen rekurriert Nolte auf eine Lagebesprechung Hitlers vom 1. Februar 1943, in welcher dieser nach dem Erhalt der Nachricht von der Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad unter Verweis auf den sogenannten ,Rattenkäfig` voraussagte, dass einige der gefangenen Offiziere in der sowjetischen Propaganda tätig werden würden. Mit diesem Rattenkäfig, - so Nolte - sei nicht gemäß der bisherigen Interpretation das Moskauer Lubjanka-Gefängnis gemeint gewesen. Stattdessen habe Hitler damit auf eine bestimmte Foltermethode Bezug genommen, die in der anti-bolschewistischen Literatur über den Bürgerkrieg an zahlreichen Stellen beschrieben worden sei, so zum Beispiel bei einem gewissen "als verläßlich geltenden Sozialisten Melgunow", dessen Büchlein aber, wie Nolte an anderer Stelle vermerkt, leider verschollen sei. Da diese Foltermethode der "chinesischen Tscheka" (i.e. Geheimpolizei, d.V.) zugeschrieben werde, hält Nolte die folgende Frage für "unvermeidbar": "Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine ,asiatische` Tat vielleicht nur deswegen, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer ,asiatischen` Tat betrachteten? (...) Sind Hitlers geheimste Handlungen nicht gerade dadurch zu erklären, dass er den ,Rattenkäfig` nicht vergessen hatte?"

Der Analogieschluß Noltes, den Holocaust als "asiatische Tat" zu bezeichnen, erfolgt vor dem Hintergrund der Biographie Max Erwin von Scheubner-Richters, bis 1923 enger Mitarbeiter Hitlers und als deutscher Konsul 1915 Zeuge der Deportation der armenischen Bevölkerung durch die Türken von Anatolien nach Syrien, die für die meisten der 1.5 Millionen Armenier zum Todesmarsch wurde. Aus den Schilderungen über diese Vorgänge zitiert Nolte einen Abschnitt, in dem der Passus auftaucht: "(...) die mit ungeheurer Schnelligkeit sich vollziehende Katastrophe, in der ein Volk Asiens mit dem anderen nach asiatischer Art, fern von europäischer Zivilisation, sich auseinandersetzte.". Nolte stellt hier die Analogiebildung mit der Frage her: "Was konnte Männer, die einen Völkermord als "asiatisch" empfanden, dazu veranlassen, selbst einen Völkermord von noch grauenvollerer Natur zu inszinieren?". Als Antwort wird der bereits ausgeführte Zusammenhang mit der bolschewistischen Revolution angeboten.

Noltes Ausführungen münden in die Aussage, dass Auschwitz zwar an sich singulär gewesen sei, aber eben doch eine "Kopie" der Vernichtungsvorgänge im Zuge der Russischen Revolution; "irrationaler" zwar und "abstoßender", aber eben "nicht ein erster Akt oder das Original". "War nicht der ,Klassenmord der Bolschewiki` das logische und faktische Prius des ,Rassenmord` der Nationalsozialisten?"

Als qualitativ neu an den Vernichtungsmaßnahmen der Nazis erscheint bei Nolte vor allem der technische Vorgang der Vergasung, denn ansonsten sei "all dasjenige, was die Nationalsozialisten später taten, (....) in einer umfangreichen Literatur der frühen zwanziger Jahre bereits beschrieben (gewesen)". Singularität bezieht sich bei Nolte darauf, dass der Holocaust "nach Motivation und Ausführung ohne Beispiel" sei, aber er müsse als "Teil der Menscheitsgeschichte" begriffen werden, der in kausaler Beziehung zu Umwälzungen der Moderne im weiteren Sinne und der Russischen Revolution im Speziellen stehe.

Insgesamt postuliert Nolte für die 80er Jahre eine sowohl in der politischen Kultur aber auch der Wissenschaft vorherrschende negative Einseitigkeit, Undifferenziertheit und Schwarzmalerei im Umgang mit dem NS und in der Zeichung seines Bildes und versteht seine Ausführungen zum kausalen Nexus und zur Einbettung des NS in die Folgen der Industriellen Revolution als Beitrag zu mehr Wissenschaftlichkeit und Historisierung.